“Der schon etliche Tage tobende Sturm ließ die
Küstenbewohner für den 16. und 17.02. Schlimmes befürchten. Die Grosseltern
erinnern sich noch teilweise an die letzte Sturmflutkatastrophe vom Februar
1827 aus Erzählungen ihrer Eltern, bei der weite Küstengebiete überschwemmt
wurden. Wir alle waren ergriffen von dem Unglück in Holland. Weihnachten 1955,
als der Sturm die Fluten bis an unsere Deichkrone trieb, gingen die
Freiwilligen Feuerwehren und andere Hilfsorganisationen Deichwache. In letzter
Minute flaute aber der Sturm ab, und die Gefahr war abgewandt. Diesmal aber
war höchste Gefahr zu erwarten. Orkanböen hatten schon in vielen Dörfern und
Städten ihr Vernichtungswerk an Dächern, Bäumen, Lichtmasten, Schaufenstern
und Wäldern vollführt. Zudem haben wir Vollmond, der das Hochwasser sowieso
höher als normal steigen lässt. Springtide mit Sturm – das Alarmsignal der
Küstenbewohner, die auf die Deiche vertrauen. Alarm auch bei der FFw Imsum.
21:45 Uhr: 4 Meter hohe Wellen schlagen gegen den Deich; die Gischt wird vom
Sturm ins Landinnere gepeitscht. Ein Grauen überkommt uns. Was wird bei
Hochwasser um 23:30 Uhr sein, wenn die Flut noch 2 bis 3 Meter steigt? Handeln
ist das Gebot der Stunde. Telefonisch fordern wir Strohballen, Faschinen,
Pfähle und Sandsäcke an. Nördlich von uns ist Wremen und weiter erfahre ich am
Telefon, ist schon der Deich beschädigt, und es wird viel Material zum Halten
des Deiches gebraucht. Wir bekommen die zusage, schnellstens versorgt zu
werden. Inzwischen steigt das Wasser weiter bei anhaltendem Nordwest-Orkan.
Die Brecher schlagen über den Deich. Circa 3 Kilometer sind von uns zu
bewachen. Drei Zwei-Mann-Patrouillen laufen, oft fast schwimmend, den Deich
ab, ständig mit einer am Ochsenturm postierten Reserve durch Lampensignal in
Verbindung. Es sind junge Feuerwehrmänner, 18 bis 26 Jahre alt, die sich im
Moment gar nicht der Gefahr bewusst sind, in der sie schweben. Da leuchtet
nördlich das Gefahrensignal auf. Der Deich gleicht einem überkochenden
Suppentopf, wie einen Strich aus Leuchtfarbe können wir den Verlauf des
Innendeiches verfolgen. In Richtung Bremerhaven-Weddewarden gibt die
Patrouille Gefahrensignal. Vom anstrengenden Ausschauen sind unsere Gesichter
geschwollen. Ein schneller Blick rundum: Wir sind auf einer Insel.
Wassermassen strudeln ins Land. Ist auch bei uns der Deich durch? Wir können
uns in den entfesselten Elementen schwer verständigen. Haben die Patrouillen
Notsignal gegeben? Da sehe ich sie schemenhaft auf dem Deich näher kommen. Ein
Höherer hat sie beschützt. Klitschnass von der eisigen Flut melden sie, dass
der Innendeich an zwei Stellen in 10 und 20 Metern Breite abgerutscht ist. Wir
stehen ergriffen und wagen nicht weiterzudenken. Wie sieht es hinter uns aus?
Sind die Angehörigen noch in Sicherheit? Immer wieder sehen wir unsere Uhren.
23:25 Uhr. Wenn doch nicht jede Minute so lange dauern würde! Da endlich; es
kommen nur noch einzelne Brecher über den Deich, und wir tasten uns durch die
knietiefe Strömung zum Deich vor. Der Sturm ist nicht mehr so stark. Keiner
hat Zeit zum Müdesein oder Frieren. Wir müssen die Schäden am Deich
feststellen. Die Flut geht zurück. Ein furchterregendes Bild hat die Macht des
Wassers uns hier hinterlassen. Der Deich an der nördlichen abgerutschten
Innendeichseite hätte diesem Unwetter nicht mehr lange widerstanden. Da Loch
in Richtung Weddewarden ist dagegen fast „harmlos“ zu nennen. Der Aussendeich
in unserem Schutzbereich ist n 30 bis 40 Stellen ausgespült, teils 15 bis 20
Quadratmeter weit und 1 Meter tief. Aber er ist bei uns nicht gebrochen, wenn
auch stark mitgenommen. Der Leuchtturm ist ringsum ausgespült. Die um den
Betonsockel gemauerten Steine liegen verstreut umher. Ein fehlgeleiteter LKW
der Bundeswehr steckt an unserem Zufahrtsweg im Graben. Mit Pfählen markieren
wir die Straße in der Wasserwüste; das erste dringend erwartete Material
trifft ein. Ich schicke die Männer teilweise nach Hause, um die nasse
Bekleidung auszuwechseln. Es ist Sonnabend, der 17.02. 06:00 Uhr früh.
Um 07:00 Uhr alarmieren wir sämtliche greifbaren männlichen Einwohner Imsums
für die Notbefestigung des Deiches. Schnellstens müssen alle schadhaften
Stellen befestigt werden. Denn immer noch ist Sturm, und das nächste
Hochwasser kommt um 12:00 Uhr. Es ist jedem klar: in diesem Zustand hält der
Deich einer zweiten Sturmflut nicht mehr stand. Verbissen arbeiten die Männer;
was sie sehen, verschlägt ihnen die Sprache. Treckerfahrer bringen wagemutig
Sandsäcke usw. so dicht wie möglich an den Deich, Pferdegespanne mit Schlitten
sind an fast unpassierbaren Stellen eingesetzt, und unermüdlich reichen
Menschenketten Sandsäcke über den Deich. Da trifft Verstärkung aus dem
Südkreis ein; die freiwilligen Feuerwehren Schiffdorf, Bramel und Wehdel mit
51 Mann. Wir müssen den Wettlauf mit der Zeit gewinnen, etwas anderes gibt es
nicht. Gastwirts- und Bauernfrauen haben sich bereiterklärt, für die 200
Männer aus eigenen Mitteln Essen zu kochen. In Gruppen zu 20 Mann konnten nach
und nach alle von jungen Frauen und Mädels Essen in Empfang nehmen. Der Sturm
drehte nach Westen; das Wasser erreichte nur die unteren Kanten der
ausgespülten, und wir hatten Zeit gewonnen. Auf dem Deich wurden die
gefährdeten Stellen mit Buschbarrieren beschützt. Um 15:30 Uhr traf ein 30
Mann starker Hilfstrupp von Zivilarbeitern der Bundeswehr aus Lübberstedt ein.
Von unserem reichlich vorhandenen Essen konnten wir diese Helfer noch
beköstigen.
Inzwischen waren die Notarbeiten größtenteils abgeschlossen, so dass ich um
16:00 Uhr die Imsumer und alle Feuerwehren entlassen konnte. Viele glichen nur
noch ausgemergelten Schatten ihrer selbst. Die Lübberstedter übernahmen jetzt
den Abschluss der Arbeiten. Ihre 3 mitgeführten UNIMOG-Allradantriebswagen
leisteten ihnen gute Hilfe und Arbeitserleichterung. Bis 20:00 Uhr was das im
Moment Menschenmögliche getan und für alle Mannschaften am Deichabschnitt
Imsum Ruhepause (bis zum nächsten Alarm). Für die FFw Imsum hiess es um 22:30
Uhr wieder Deichwache gehen. Das Wasser und der Sturm gingen zurück, und
erleichtert konnte ich nachts um 01:00 Uhr auch die letzten Feuerwehrmänner
entlassen und die weitere Verantwortung dem Vorsitzenden des Deich- und
Sielverbandes übergeben. Trotz der großen Gefahr, in der wir uns befanden,
sind wir dem Schicksal dankbar, dass uns großes Unglück, wie zum Beispiel in
Hamburg, erspart blieb.“
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